In einem Seminar der "Brücke Passau" lernen Lehramtsstudenten zwei Tage lang, wie sie am besten mit herausfordernden Schülern umgehen. Das Seminar leitet Marc Aubry, der selber mit straffällig gewordenen Jugendlichen zusammenarbeitet. Er zeigt den Studenten, wie sie in solchen Situationen handeln können und wieso es so wichtig ist, den Menschen eine Chance zu geben und sie zu verstehen.
"Verstehen, aber nicht einverstanden sein"
Dieser Satz steht in großen schwarzen Buchstaben auf dem Plakat im Seminarraum des bischöflichen Ordinariats in Passau. Die Stühle sind in einem Halbkreis aufgestellt, die Fenster des Zimmers bieten einen direkten Blick auf den Dom. 13 Lehramtsstudenten des Faches Religion sollen hier in den nächsten zwei Tagen lernen, wie sie mit "herausfordernden Schülern" umgehen. Beigebracht wird ihnen das von Marc Aubry.
Marc Aubry ist Diplomsozialpädagoge bei der "Brücke Passau", eine Initiative der Caritas, die straffällig gewordene Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren betreut. Die Jugendlichen nehmen dabei an Maßnahmen teil, die vom Amtsgericht oder von der Staatsanwaltschaft angeordnet wurden. Darunter zählen zum Beispiel Sozialstunden, Anti-Aggressivitätstraining oder Leseweisungen. Ziel ist es, der Kriminalität vorzubeugen sowie die Rückfälligkeit der Jugendlichen zu verhindern.
Kriminalität steigt
Die Kriminalität von Minderjährigen ist laut der polizeilichen Kriminalstatistik im Jahre 2022 stark gestiegen. Vor allem die Anzahl der tatverdächtigen Kinder hat sich mit einem Plus von 35,5 Prozent stark erhöht. Auch bei Jugendlichen Tatverdächtigen zwischen 14 und 18 Jahre ist die Anzahl gestiegen.
"Let‘s Fetz" sagt Marc Aubry und beginnt das Seminar. Das Thema zu Beginn: Verstehen. Verstehen, wieso Kinder oder Jugendliche so werden. Ein Student nennt die Vernachlässigung seitens der Eltern als möglichen Grund. Fast alle Jugendlichen, mit denen Aubry zusammenarbeitet, kommen aus einem "zerrütteten Elternhaus", erzählt er daraufhin.
Straftaten bei Kindern oder Jugendlichen treten meist nur einmalig auf
5-10 Prozent der Tatverdächtigen werden jedoch öfter straffällig, manchmal auch für schwerwiegende Taten. Oft befinden sich diese Täter in Problemlagen und leiden zum Beispiel unter sozialer Benachteiligung, Problemen in der Schule oder Gewalterfahrungen in der Familie. "Ich habe Leute kennengelernt, die in ihrer Kindheit so schlimme Sachen erlebt haben, dass ich das hier nicht nennen will. Die sind nicht deshalb krass, weil sie etwas Krasses gemacht haben, sondern weil sie so etwas Krasses erlebt haben", sagt Aubry später.
Aubry fragt nun die Studenten: Was brauchen diese Kinder? Unter den Vorschlägen sind unter anderem Verständnis, Respekt, Regeln und Kommunikation. Die zukünftigen Lehrer sind alle sehr motiviert. Sie wollen wissen, wie sie später im Beruf am besten mit den Kindern umgehen. Viele der Studierenden unterrichten schon einzelne Stunden in Schulen und können auch ihre eigenen Erfahrungen mit einbringen. Sie berichten von Erlebnissen aus ihrem Schulalltag, diskutieren miteinander und helfen sich gegenseitig.
Dabei kommen Fragen auf wie:
Welche Regeln sollte es geben? oder: Wie sinnvoll sind Bestrafungen? Aubry stellt klar, wie wichtig es ist, von Beginn an gemeinsam mit den Schülern Regeln zu erarbeiten. So können sich Lehrer und Schüler gegenseitigen Respekt verschaffen.
Gegenseitiger Respekt ist auch für Marc Aubry bei seiner Arbeit mit den straffällig gewordenen Jugendlichen von großer Bedeutung: "Ich kann das nicht haben, wenn Leute über Andere lästern, weil sie aus dem Rahmen fallen. Wir wissen nicht, wie wir drauf wären, wenn wir die Vergangenheit von so jemanden hätten. Diese Leute haben meistens einen guten Grund, warum sie so geworden sind und das erkennen die Meisten nicht." Er wünscht sich mehr Verständnis von den Menschen, gleichwohl man nicht mit den Taten einverstanden sein soll. Eben so, wie es auf dem Plakat steht und wie er es auch den Studierenden beibringen will: Verstehen, aber nicht einverstanden sein.
Nachdem es in der ersten Sitzung vor allem darum ging zu verstehen und zu schauen, was solche Kinder brauchen, thematisiert der zweite Tag des Seminars die genauen Handlungsschritte, die man als Lehrer am besten in einer Konfliktsituation tun sollte.
"the easy way" - "the hard way"
Dabei unterscheidet Aubry zwischen zwei Stufen: "the easy way" (der einfache Weg) und "the hard way" (auf die harte Tour). Wie auch schon bei allen anderen Themen hat er für jedes Thema sorgfältig gestaltete Plakate entworfen. "The easy way" steht in einer aufgemalten Sonne, "the hard way" in einer Regenwolke. Es wird also deutlich: Die Lehrer sollen sich bemühen, die Situation erstmal auf die einfache Art zu lösen.
Aubry erklärt daraufhin, wie wichtig es ist, den Schüler mit ins Boot zu holen. Das zeigt dem Kind, dass seine Meinung zählt. Auch diesmal bringen die Studierenden ihre eigenen Erfahrungen aus dem Schulalltag mit ein. Unter den Erfahrungen mit Schülern sind Unaufmerksamkeit oder das Zerreißen von Blättern, aber auch Vorfälle wie Schlagen oder das Aufmalen von Hakenkreuzen.
Sowohl psychische als auch physische Gewalt an Schulen werden zu einem immer größeren Problem. Konflikte eskalieren schneller und werden auch mit härteren Mitteln ausgetragen. Für die Lehrer mangelt es allerdings an Unterstützung und sie fühlen sich mit dem Problem oft alleingelassen.
Aubry will den Lehramtsstudenten deswegen bestmöglich beibringen, wie sie in solchen Situationen handeln. Sollte "the easy way" nicht funktionieren, müssen sie allerdings versuchen das Problem anders zu lösen. Aubry erklärt die Schritte des "hard way". "Hell or Heaven" (Hölle oder Himmel) steht auf dem Plakat, was er dafür angefertigt hat. Die Lehrer können versuchen mit dem Schüler auf eine Ebene zu gehen. Allerdings ist es wichtig, sich vorher zu überlegen, was man macht, wenn nichts anderes mehr funktioniert. Statt "Heaven" wird die Situation dann zur "Hell" und die Lehrer müssen gegebenenfalls mit Bestrafungen durchgreifen. Wie auch schon bei den vorherigen Themen probieren die Studierenden im Anschluss die Methode selbst in Rollenspielen aus.
Die Studenten sind mit dem Seminar zufrieden: "Mir hat es sehr gut gefallen. Ich fand den Teil aus Theorie und die daran anschließenden Praxiseinheiten sehr gewinnbringend. Es ist eine
Sache, die Theorie im Studium zu lernen, aber das dann auch in der Praxis umzusetzen ist etwas ganz anderes."
Für Aubry ist es wichtig, anderen zu zeigen, dass man den Menschen helfen kann und sich die Mühe lohnt. Das hat er auch in seinem Job gelernt: "Wenn man Erfolg hat, dann ist das ein gutes Gefühl, weil man weiß, dass man etwas Sinnvolles getan hat. Man fährt abends heim und weiß, man hat etwas Gutes bewirkt."
Quellen:
• Brücke Passau (caritas-passau.de)
• BMFSFJ - Kriminalitäts- und Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen
• Zahl der Straftaten in Deutschland 2022 deutlich gestiegen | tagesschau.de
• Gewalt an Schulen: Mehr Unterstützung für Lehrer gefordert | tagesschau.de
Text: Lindner